Mobilität des Rechts – Der Transfer von Rechtstexten am Beispiel der rechtlichen Stellung von Jüdinnen und Juden in Europa

Dr. Amélie Sagasser

Zwischen dem 11. und dem späten 13. Jahrhundert lassen sich im deutsch-römischen Reich und in den Königreichen England und Frankreich Verflechtungen verschiedener „Judenrechte“ beobachten. Die Historikerin Amélie Sagasser vom DHI Paris untersucht die Verbindungen und parallelen Entwicklungen weltlicher und kirchlicher Rechtstexte am Beispiel rechtlicher Bestimmungen zum Umgang mit Jüdinnen und Juden.


Rechtstexte sind Verlautbarungen weltlicher und kirchlicher Autoritäten, die sich an einen genau definierten Adressatenkreis in einem begrenzten Raum richten. Sie sind das schriftlich fixierte Ergebnis einer im Vorfeld stattgefundenen Debatte. Die beteiligten weltlichen und kirchlichen Akteure wirkten an verschiedenen Orten. Sie verstanden es, ein großes Netzwerk aufzubauen, das wiederum den Austausch von Ideen und Wissen förderte und eine Intertextualität von Rechtsnormen zur Folge hatte. An diese Gegebenheit anknüpfend widmet sich das Projekt den Interferenzen europaweit rezipierter Rechtsnormen zwischen dem 11. und dem späten 13. Jahrhundert. Es erklärt Ähnlichkeiten, Verbindungen und parallele Entwicklungen von Recht.

Der Fokus – Rechtliche Bestimmungen zum Umgang mit Jüdinnen und Juden

Im Zentrum stehen Bestimmungen zum Umgang mit Jüdinnen und Juden. Dieses Korpus bietet sich aus mehreren Gründen zur Erforschung der „Mobilität“ der Rechtstexte an:

  • Die Existenz jüdischer Gemeinden ist spätestens ab dem 11. Jahrhundert als weitgefasstes Siedlungsnetz in ganz Europa belegt.

  • Der rechtliche Umgang mit Jüdinnen und Juden bzw. mit dem Judentum hatte Tradition unter den rechtssetzenden Gewalten und ist über Jahrhunderte hinweg in den Quellen konstant, aber mit zeitlichen und räumlichen Unterschieden belegt.

  • Die Inhalte der Bestimmungen bezüglich der Jüdinnen und Juden sind sehr vielschichtig. So finden sich beispielsweise Verleihungen von Privilegien, Verordnungen von Restriktionen, judenfeindliche stereotypisierte Diskurse oder Anordnungen zur Verfolgung oder Vertreibung.

Zeitlicher und geographischer Forschungsrahmen

Der zeitliche Rahmen der Studie erklärt sich wie folgt: Das 11. Jahrhundert ist die Zeit, in der in ganz Europa der Rechtsstand der Jüdinnen und Juden sowohl auf kirchlicher wie auch auf weltlicher Ebene definiert wurde. Die zeitliche Zäsur bilden die sozioreligiösen Veränderungen ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert. Diese brachten etappenweise den Versuch mit sich, die Jüdinnen und Juden aus den europäischen Gesellschaften vollständig zu vertreiben. Der geografische Fokus liegt in erster Linie auf dem römisch-deutschen Reich sowie den Königreichen England und Frankreich. Ausgangspunkt der Studie ist die Beobachtung, dass sich die weltlichen und kirchlichen Autoritäten zur gleichen Zeit mit der Frage nach dem Platz von Jüdinnen und Juden in der Gesellschaft auseinandersetzten, auch wenn sich die Beweggründe und Kontexte für ihre Maßnahmen unterschieden.

Strömungen und Tendenzen des weltlichen und kirchlichen Rechts

Ziel der Arbeit ist es, anhand aussagekräftiger europaweit rezipierter Rechtstexte den verschiedenen Formen von Intertextualität und Verknüpfungen, dem Transfer dieser Rechtstexte sowie den Faktoren, die diese Bestimmungen beeinflusst haben, differenziert nachzugehen.  Am Beispiel der Entwicklung des Status von Jüdinnen und Juden sollen die verschiedenen Strömungen und Tendenzen des weltlichen und kirchlichen Rechts herausgearbeitet werden. Das Korpus der weltlichen Politik zum Umgang mit Jüdinnen und Juden besteht in erster Linie aus Urkunden sowie königlichen Ordonnanzen. Die Untersuchung der kirchlichen Haltung stützt sich auf Synodalbeschlüsse und päpstliche Schreiben. Die bischöfliche Überlieferung findet nur dann Berücksichtigung, wenn sie die Reaktion auf die Politik der Herrscher oder des Papstes widerspiegelt. Diese Quellen sind größtenteils ediert. Das Korpus wurde auch in einer diachronen Perspektive in Form von Fallbeispielen bereits punktuell untersucht. Was allerdings bis jetzt in der Forschung fehlt, ist eine synchrone Betrachtung der in jener Zeit fast gleichzeitig formulierten Bestimmungen. Gerade diese Querverbindungen stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Zur Untersuchung der Verflechtungen wird das oben genannte Quellenkorpus ausgewählten, im gleichen Zeitraum zusammengestellten Kirchenrechtssammlungen gegenübergestellt. Sie wurden im Hinblick auf diese Fragestellung und gerade für die jüdische Geschichte bislang nur wenig beachtet. Aktuell stehen zwei Arten von Textmobilität im Fokus; weitere werden folgen.

Formen und Techniken von Textmobilität

Zum einen geht es um die Formen und Techniken von Textmobilität. Der Fokus liegt hier vor allem auf Fragen zur Textkompilation und zu politischen Traditionen, aber auch zur Diffusion von Bestimmungen in Herrscher- und Papsturkunden. Es soll differenziert aufgezeigt werden, in welchen geografischen Räumen und in welchen Kontexten der Umgang mit Jüdinnen und Juden von der Politik der Vorgänger einerseits und den politischen, wirtschaftlichen, sozialen Gegebenheiten andererseits geprägt wurde.

Thematische Berührungspunkte der Quellen

Auf dieser Grundlage geht es in einem zweiten Schritt um thematische Berührungspunkte der verschiedenen Quellen. Es wird untersucht, inwiefern die Bestimmungen in Kirchenrechtssammlungen entweder im direkten Einklang mit oder als Reaktion auf das Handeln weltlicher wie auch kirchlicher Autoritäten zusammengestellt wurden. Wenn dem so war, sind die Bestimmungen zum Umgang mit Jüdinnen und Juden, die von weltlichen wie auch kirchlichen Autoritäten in den verschiedenen geografischen Gebieten verkündet wurden, von den  jeweils vorherrschenden rechtlichen Gegebenheiten beeinflusst worden. Der Fokus dieses Teils liegt auf den oben bereits erwähnten kanonischen Sammlungen. Alleine für die Zeit bis 1140 ließen sich 87 Sammlungen mit insgesamt fast 800 Paragraphen, welche einen Hinweis auf Jüdinnen und Juden enthalten, erfassen. Fast alle dieser Maßnahmen stammen von antiken und westgotischen Synoden sowie aus Briefen von Kirchenvätern. Das Korpus soll in den nächsten Monaten noch für den gesamten Bearbeitungszeitraum erweitert werden. Mit Hilfe computergestützter Verfahren sollen die Verbindungen zwischen diesen Sammlungen rekonstruiert werden. Auf diese Weise wird am Beispiel ausgewählter Kirchenrechtssammlungen aufgezeigt, in welchen geografischen Räumen und in welchen Zeiträumen welche Bestimmungen den rechtlichen Rahmen für den Umgang mit Jüdinnen und Juden schufen. Diese gilt es dann, mit den Ergebnissen des ersten Teils in Verbindung zu setzen.

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