Thema Platzhalter

Neue Welten erschaffen: Chinesische Migration in Lateinamerika des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts migrierten tausende Chinesen (aus historischen Gründen wird hier nur die männliche Form verwendet) nach Lateinamerika. Dieser Einwanderung ging die Verbreitung eines Narratives voraus: Den chinesischen Migranten sollte Zugang zu den südamerikanischen Ländern gewährt werden, damit sie die infrastrukturelle und landwirtschaftliche Entwicklung vorantrieben. Nino Vallen vom DHI Washington untersucht, zu welchen Zwecken solche Narrative über chinesische Arbeiter in Peru und Ecuador verbreitet wurden, wie sie mit Ideen von Modernisierung und Entwicklung verzahnt waren und wie die Gegner dieses Migrationsprojekts mit ihren eigenen Gegenerzählungen reagierten.

Narrative spielen eine wichtige Rolle in der Art und Weise, wie Menschen sich die Welt vorstellen. Sie machen Probleme sichtbar und verweisen auf Akteure, die für ihre Lösung zentral sind. Als Werkzeuge des politischen und sozialen Kampfes tragen sie außerdem zur Gestaltung der Wirklichkeit bei.

In meinem Habilitationsvorhaben untersuche ich, wie ein weltweit zirkulierendes Narrativ über den chinesischen Wanderarbeiter zur Entwicklung neuer Weltvorstellungen in Peru und Ecuador zwischen 1848 und 1931 beitrug. Der Fokus liegt dabei auf der Rolle, die die chinesischen Migranten sowohl in den Kämpfen um die entstehenden Nationalstaaten spielten als auch in der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen dieser Länder. Außerdem beschäftigt sich mein Projekt mit der Frage, welchen Einfluss die chinesische Migration auf die Herausbildung neuer Vorstellungen von Fremdheit hatte. Während diese Debatten in der bisherigen Forschung häufig durch die Brille der Nationsbildung betrachtet wurden, nähert sich das Projekt diesen Konflikten hingegen aus der Perspektive der Erschaffung neuer Welten.

Wie trugen die Narrative, die in der Politik, im Unternehmertum, in den Gewerkschaften, innerhalb des Klerus, in der Wissenschaft, in den Medien und in indigenen Gemeinschaften über chinesische Migranten verbreitet wurden, dazu bei, bestimmte Ideen dahingehend zu entwickeln, wie die Welt funktioniert oder funktionieren sollte? Zu welchen Zwecken verbreiteten diese Akteure und Akteurinnen die Narrative und wie waren diese mit noch allgemeineren Ideen über Modernisierung und Entwicklung verzahnt? Welche Strategien setzten die verschiedenen Gruppen ein, um die Attraktivität ihrer eigenen Narrative zu fördern oder die ihrer Gegner zu disqualifizieren? Welche Arten von Wissen haben sie in diesem Prozess mobilisiert und produziert?

Das Problem des Arbeitskräftemangels

Chinesische Migranten kamen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika. Ihre Hauptziele waren Kuba (ca. 125.000 chinesische Migranten bis 1874) und Peru (ca. 100.000 bis 1874), aber einige ließen sich auch in Mexiko, Panama, Costa Rica, Kolumbien, Brasilien, Ecuador, Chile und Surinam nieder. Einer der Hauptgründe für Lateinamerikaner, chinesische Arbeiter nach Lateinamerika zu bringen, war der allgemein beklagte Mangel an Arbeitskräften (brazos). Obwohl sich die Mitglieder der lateinamerikanischen Gemeinschaft einig waren, dass die europäische Einwanderung vorzuziehen sei und die chinesischen Migranten somit nicht die erste Wahl waren, um diesen Arbeitskräftemangel zu beheben, wurden sie immer wieder als gute Alternative präsentiert.

Tatsächlich ging der Einwanderung chinesischer Arbeiter nach Lateinamerika die Verbreitung eines erstaunlich langlebigen Narrativs voraus: Ihnen sollte Zugang zum Land gewährt werden, damit sie die Felder bestellen, die Infrastruktur aufbauen und die Überschüsse produzieren konnten, die dann auf den entstehenden globalen Märkten verkauft werden konnten und so der Entwicklung der Nation dienen sollten.

Diejenigen, die diesen Standpunkt vertraten, waren meist Kapitalisten und Großgrundbesitzer. In erster Linie von der Suche nach persönlichem Profit getrieben, folgten sie der Vorstellung, dass die lateinamerikanischen Länder den Anschluss an modernere Länder wie England, Frankreich, Preußen und die Vereinigten Staaten finden müssten. Die Lösung, die sie vorschlugen, war die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes; ein Entwicklungsmodell, das die Vorstellung eines ständigen Vorhandenseins von billigen und leicht zu kontrollierenden Arbeitskräften benötigte. Viele lokale Akteure lehnten solche Vorstellungen zwar ab, aber die Wirkung dieses „Wirtschaftsmodells“ war dennoch beträchtlich.

Bis heute bestimmt dieses extraktivistische Paradigma, das durch solche Erzählungen geprägt wurde, die Politik vieler lateinamerikanischer Länder. Die Folgen für Mensch und Natur sind nach wie vor verheerend. Die Studie gibt einen historischen Einblick in die Rolle, die verschiedene Narrative bei der Popularisierung eines Paradigmas spielten, das die Weltanschauung der Menschen in Lateinamerika ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend prägte.

Schaffung neuer Welten

Die Gruppe chinesischer Migranten ist aufgrund ihrer Rolle in verschiedenen miteinander verknüpften Prozessen der Weltgestaltung besonders relevant für diese Studie. Sie wurden nicht nur zu Protagonisten in Debatten über das Wesen der Arbeit und über die extraktivistische Wirtschaft, sondern die Erfahrungen mit der chinesischen Migration hatten auch einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Ordnung und die Konzeptualisierung universeller „Rassenhierarchien“.

Gleichzeitig brachten die Interaktionen von chinesischen Arbeitsverpflichteten, Handelseliten, Politikern und Intellektuellen mit den lokalen Gemeinschaften neue und wenig bekannte Welten hervor. Die interamerikanischen und transpazifischen Netzwerke, die die Chinesen schufen, wurden für Personen, die antiimperiale Absichten oder gegenhegemoniale Narrative im transpazifischen Raum formulierten, zu einem wichtigen Instrument. Während der Amtszeit von Präsident Augusto B. Leguía (1919-1930) verbesserte sich z.B. die Lage für die chinesischen Migranten in Peru ein wenig. Aufgrund dieser Entwicklung gelang es ihnen, ihre Rolle bei der Entstehung der peruanischen Nation umzudeuten und mithilfe von neuen Narrativen die Stellung Perus in der Welt mit zu definieren.

Durch die Konzentration auf die chinesischen Migranten soll eine vielschichtigere Geschichte erzählt werden, die das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Erzählungen innerhalb der politischen Arena untersucht. Denn letztendlich haben all diese verschiedenen Narrative dazu beigetragen, die politischen und sozioökonomischen Realitäten in Ländern wie Peru oder Ecuador zu gestalten.


Bildnachweis Header: Los que vienen y los que se van. © Fray K. Bezón, Lima 1907, Nr. 4, Titelseite

Weitere Beiträge zum Thema „Migration und Mobilität“