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Schatten des Abendlands – Der Katholizismus im politischen Denken der europäischen Nachkriegszeit, 1945–1960

PD Dr. Simon Unger-Alvi

Die Nachkriegszeit war geprägt durch das Nebeneinander von religiösem Konservatismus und demokratischem Neubeginn. Wie konnte sich trotz dieser gegensätzlichen Strömungen eine gemeinsame europäisch-demokratische Identität herausbilden? Und welche Rolle spielte dabei der Katholizismus? Diesen Fragen geht ein Forschungsprojekt am DHI Rom auf den Grund.

Tief eingebrannt im kollektiven Gedächtnis Westeuropas ist das Bild der Umarmung Konrad Adenauers und Charles de Gaulles nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages 1963. Weniger prominent sind heute hingegen die Bilder der beiden Staatsmänner aus der Kathedrale von Reims im Vorjahr.

Bei diesem Staatsbesuch Adenauers in Frankreich im Juli 1962 wurde das symbolische Fundament für die deutsch-französische Aussöhnung und ein gemeinsames Handeln im europäischen Einigungsprozess gelegt. Auffällig ist hier jedoch auch die Nähe zur katholischen Kirche. De Gaulle selbst wies anlässlich Adenauers Besuchs sogar auf die Notwendigkeit hin, in Europa an die „grandiose Erinnerung“ des christlichen Mittelalters und vor allem an die Herrschaft Karls des Großen anzuknüpfen. Welches Europa war es also, das den katholisch-konservativen Politikern und Vätern der neuen westeuropäischen Demokratien vor Augen schwebte?


Katholische Politiker und eine „neue“ europäische Identität

Am Deutschen Historischen Institut in Rom untersuche ich den Einfluss des Katholizismus auf das politische Denken im Europa der Nachkriegszeit. Dabei nehme ich insbesondere Kontinuitäten eines christlichen Konservatismus in den Blick, der 1945 einerseits eine Wiedergeburt erfuhr, andererseits aber an alten Leitmotiven der Vorkriegszeit festhielt. Während sich in Frankreich, Westdeutschland und Italien die Demokratien erneuerten und die europäische Idee entstand, knüpften insbesondere Christdemokraten an weitaus ältere Konzepte eines ‚katholischen Abendlands‘ an. Dabei drängt sich vor allem die Frage nach dem Verhältnis katholisch-konservativer Strömungen zur faschistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit auf. Mein Ziel ist dabei, die politischen Narrative der nachkriegszeitlichen Geistesgeschichte zu hinterfragen, die bisher weitgehend um widersprüchliche Kategorien von 'faschistischen Kontinuitäten' und 'demokratischem Neubeginn' kreisten. Stattdessen untersucht meine Arbeit, wie katholische Politiker und Intellektuelle weitaus größer gefasste Fragen nach einer europäischen Identität in der Moderne diskutierten. Im Kern steht dabei die Gleichzeitigkeit von Erneuerung und Kontinuität.

Dritte Wege

Die Verbreitung und der Einfluss des Schlagworts vom christlichen ‚Abendland‘ veranschaulichen eine neue ideologische Führungsstärke der katholischen Kirche nach 1945. Basierend auf Parteischriften, Zeitungsartikeln und den neu zugänglichen Quellen des Apostolischen Archivs zum Pontifikat Pius' XII. untersuche ich Muster eines religiös-konservativen Denkens. Dieses setzte sich einerseits für die demokratische Neugestaltung und Einigung Europas ein, andererseits hielt es aber auch an klassisch reaktionären Themen fest. In der katholischen Vorstellungswelt der Nachkriegszeit fand sich zum Beispiel häufig die Idee eines ‚Dritten Wegs‘, um die europäische Kultur sowohl vor dem Kommunismus des Ostblocks als auch dem ‚Materialismus‘ Amerikas zu bewahren. Dieser sogenannte ,Dritte Weg‘ ging mit neuen Konzepten wie der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, dem Gaullismus in Frankreich oder dem katholischen Korporatismus in Italien einher.

Rettung des ‚Abendlands‘

Wieviel Faschismus und Nationalsozialismus wurde vom christlichen Konservatismus der Nachkriegszeit demokratisch umgedeutet? Einerseits vereinfachte ein neues katholisches Selbstbewusstsein die Westbindung von Italien und der BRD, andererseits wurden mit kirchlicher Vermittlung auch enge Beziehungen zwischen demokratischen Staaten und klerikal gestützten Diktaturen in Spanien, Portugal und Lateinamerika geprägt. Es steht daher die Frage im Raum, inwiefern der Katholizismus der Nachkriegszeit Annäherungen innerhalb der europäischen Rechten ermöglichte, die vormals in Unterstützer und Gegner faschistischer Systeme gespalten war. Für die vermeintliche ‚Rettung des Abendlands‘ ließen sich schließlich verschiedene Vertreter der europäischen Rechten mit ganz unterschiedlichen Motiven mobilisieren. Die Schwierigkeit besteht letztlich darin, eine christlich-konservative Mentalität zu rekonstruieren, in der Fragen nach Faschismus und Nationalsozialismus oft nicht als politisch entscheidend wahrgenommen wurden und in der Demokraten und ehemalige Faschisten stattdessen zu gemeinsamen politischen Ideen fanden. Insgesamt leistet die Arbeit so einen Beitrag zu einem neuen Verständnis der westeuropäischen Demokratisierungsprozesse und nimmt die oft unbeachteten Ambivalenzen zwischen westlich-demokratischen Impulsen und einem tief verwurzelten religiösen Konservatismus in den Blick.

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