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Soziologische Objektivität als Lebensform – ein Fallbeispiel

Dr. Ole Münch

Ist es möglich, die „Gesellschaft“ zu betrachten, ohne dass Vorurteile die Wahrnehmung verzerren? Bereits seit dem 19. Jahrhundert betreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschung unter der Prämisse der Objektivität. Auch in der Geschichte der Soziologie spielte sie als „epistemische Tugend“ eine wichtige Rolle. Mit der Frage, wie man ihr gerecht wird, beschäftigten sich zum Beispiel die sogenannten Mass Observer in Großbritannien (1937-1949). Das Ideal der Objektivität beeinflusste nicht nur ihre Forschungsmethoden, sondern auch ihren Habitus und ihre Lebenswelt, wie Ole Münch vom Deutschen Historischen Institut London in seiner Arbeit aufzeigt.


Henry Novy hatte sich verändert. Er besitze viel mehr zwischenmenschliches Verständnis als früher, schrieb sein Schulfreund Pedro im Februar 1940 in einem Brief an ihn. Das Schriftstück befindet sich in einem Archiv im südenglischen Brighton: „Ich bin immer davon ausgegangen, dass Du wachsen und Dich zu einem liebenswerten Kerl entwickeln würdest“, erläutert Pedro darin. Aber der „subtile Instinkt“, die Motive anderer zu entschlüsseln und ihre Reaktion auf ihn selbst zu deuten, habe Henry früher gefehlt.

Tatsächlich befand sich Henrys Leben zu dieser Zeit im Umbruch. Er arbeitete seit einigen Monaten für ein britisches sozialwissenschaftliches Projekt namens Mass Observation (MO) und verbrachte viel Zeit mit seinen Kolleginnen und Kollegen – ja, er wohnte und „lebte“ mit einigen von ihnen zusammen in einer Wohngemeinschaft in Bolton, einer verrauchten nordenglischen Arbeiterstadt.

Vermutlich war sein neues Umfeld mit dafür verantwortlich, dass Henry in Briefen an seinen Schulfreund über sich und andere Menschen anders als früher reflektierte.

Wenn ich mit dieser These richtig liege, wäre das keine Bagatelle. In den vergangenen sechs Jahrzehnten hat sich in vielen westlichen Gesellschaften eine beispiellose „Bildungsexpansion“ ereignet. Sie bringt es mit sich, dass immer mehr Menschen einen immer größeren Teil ihres Lebens in „wissensbezogenen Lebenswelten“ verbringen, wie die Soziologin Karin Knorr-Cetina sie in ihrem Buch „Wissenskulturen“ genannt hat. Die moderne „Wissensgesellschaft“ macht sich nicht zuletzt dadurch bemerkbar, dass Menschen in solchen Lebenswelten sozialisiert werden. Doch wie genau geht dies vonstatten?

In meinem Forschungsprojekt setze ich mich mit zwei „Wissenskulturen“ aus der Soziologie auseinander, um sie einem systematischen Vergleich zu unterziehen: der US-amerikanischen Chicago School und dem bereits benannten Mass Observation Project. Was die Mitglieder beider Formationen vereint, ist, dass sie mit qualitativen Methoden arbeiteten – und dass sie glaubten, auf diese Weise zu „objektiven“ Erkenntnissen zu gelangen. Dabei war „Objektivität“ mehr als eine methodologische Leitlinie, wie ich bei der Quellenlektüre festgestellt habe. Vielmehr muss man sie als epistemische Tugend betrachten, die auch den Alltag der Akteurinnen und Akteure färbte, ihren Habitus und ihre Art miteinander umzugehen. Am Beispiel der Mass Observer lässt sich dies gut zeigen.

Soziologie im Kampf gegen den „Aberglauben“

Wer den Namen Mass Observation zum ersten Mal hört, denkt vielleicht zunächst an einen Überwachungsapparat – an einen Geheimdienst, der die „Massen“ observiert. Doch gemäß seiner Grundidee war MO das Gegenteil: eine avantgardistische, „offene“ Form von Soziologie, bei der sich möglichst viele bewusst einbringen und die die Gesellschaft für alle ihre Mitglieder transparent machen sollte. Die Gründer[1] des Projekts hatten sich im Winter 1937 zusammengetan, um die Entfremdung der Menschen in der modernen Klassengesellschaft zu überwinden: „Wie wenig wissen wir von unseren Nachbarn, wie wenig über uns selbst?“, heißt es im Gründungsmanifest der Organisation. Aus Mangel an objektiven Informationen übereinander würden die Menschen irrationale und „abergläubische“ Vorstellungen und Ängste hegen. Die modernen Massenmedien könnten diesem Trend entgegenwirken, doch stattdessen würden sie „Aberglauben“ (zum Beispiel für die Werbung) nutzen und schüren, so die Gründer der Organisation. Wohin dies führe, könne man unter anderem an Nazideutschland mit seiner Propagandamaschinerie beobachten.

Um die demokratische Gesellschaft zu schützen, sei es mithin wichtig, wahrhaft „objektives“ Wissen über ihre Mitglieder zu gewinnen und anschließend zu verbreiten. Zu diesem Zweck griffen die sogenannten Mass Observer – bereits früh in der Soziologiegeschichte – auf qualitative Methoden zurück. Die Organisation unterhielt einen Stab von bezahlten Amateursoziologinnen und -soziologen, die ihre Mitmenschen beobachteten und interviewten. Außerdem standen sie in Kontakt mit einer Reihe von freiwilligen Informantinnen und Informanten, die im Dienste der Wissenschaft Tagebuch führten und mit MO korrespondierten. In ihren Briefen berichteten sie zum Beispiel über persönliche Erlebnisse und bezogen Stellung zu politischen Ereignissen. Es dauerte allerdings nicht lange, bis unter Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Einwände laut wurden: Sei das empirische Material nicht zu „subjektiv“?

Die Mass Observer wiesen solche Angriffe scharf zurück. Der wissenschaftliche Zeitgeist war positivistisch: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bemühten sich, „objektiv“ zu sein, und MO bildete keine Ausnahme. Allerdings rückten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes den Begriff „Objektivität“ in manchen ihrer Schriften ein wenig in ihrem Sinne zurecht. Auch ein Erlebnisbericht voller Gefühle und Werturteile könne „objektiv“ sein, argumentierte einer der Gründer des Projektes – vorausgesetzt, dass „das Subjektive“ der Gegenstand sei, den man verstehen wolle. „Objektiv“ wäre demnach ein Informant, dem es gelingt, sozusagen „aufrichtig“, ohne subjektiven Bias, die eigene Sichtweise so zu schildern, wie sie sei.

Eine raue Kultur der psychologischen Schmährede

Es gäbe viel über die sozial- und ideengeschichtlichen Einflüsse zu berichten, unter denen MO Gestalt annahm. Die meisten Mass Observer – wenn auch nicht alle – entstammten einer gebildeten, intellektuell radikalen Elite. Argumente aus dem Surrealismus, der Psychoanalyse und dem Marxismus waren unter ihnen weit verbreitet. Für mein Argument ist wichtig, dass im Zusammenspiel der Akteurinnen und Akteure und ihrer Ideen eine sozialwissenschaftliche „Kultur der Objektivität“ (Lorraine Daston) entstand, und dass die Mitglieder dieser Kultur einen eigentümlichen, ich möchte sagen „objektivistischen“, Umgang miteinander pflegten.

Wie genau dieser Stil zum Ausdruck kam, kann man den oben bereits angeführten Briefen entnehmen, die Henry Novy aus Bolton schrieb. Hier befand sich eine Zweigstelle von Mass Observation – ein Haus, in dem vier bezahlte Amateursoziologen[1] dauerhaft wohnten. „Es ist eigenartig“, schrieb Henry einmal an Pedro: „Es gibt wenig Sympathie unter uns [Hausbewohnern], aber wir haben endlosen Spaß“. Insbesondere am Esstisch würde viel gelacht, weil man sich gegenseitig unentwegt die „bittere Wahrheit“ (engl. „Home Truth“) übereinander erzählte: „Wir sezieren gegenseitig unseren Charakter wie Meerschweinchen in einem Labor.“

Im Zentrum des Spottes stand der Leiter der Zweigstelle, ein Mann namens Alec Hughes, der für Kritik an seinem Charakter eigentümlich empfänglich war. Als Henry ihn einmal kritisierte, wollte er eine zweite Meinung über sich einholen. Also schrieb Henry einen Brief an einen gemeinsamen Freund namens Brian, der zu dieser Zeit im Hauptquartier von Mass Observation in London stationiert war. Aber Brian weigerte sich – immerzu würde er gefragt, ob er nicht den Charakter von irgendjemandem analysieren und „sezieren“ könne. In Zukunft wolle er für derartige Dienste bezahlt werden. In Bolton und im Londoner Hauptquartier von MO herrschte offenbar eine raue Kultur der psychologischen Schmährede.

Es ist bekannt, dass sich die Mass Observer eines betont ungekünstelten Umgangstons bedienten. Er passte zur integrativen, ja, antiakademischen Agenda des Projektes. Die Amateursoziologinnen und -soziologen brachten mit ihm nicht zuletzt ihre Sympathie für die „einfachen Leute“ zum Ausdruck, die sie erforschten. Darüber hinaus war die epistemische Kerntugend der Organisation, also Objektivität, für den eigentümlichen Interaktionsstil mit verantwortlich, so meine These.

Objektivistische Umgangsformen

Radikale Objektivität ist wohl eine Utopie. Allerdings gab und gibt es Menschen, die sie für möglich halten, die versuchen ihr gerecht zu werden und sie an gewissen Indizien zu erkennen glauben – etwa an einer bestimmten Forschungsmethode oder am Design einer Studie. Darüber hinaus ist es für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht ungewöhnlich, sich auch im informellen Gespräch ihrer wissenschaftlichen Werte zu vergewissern, etwa indem sie Allgemeinbildung oder gedankliche Originalität zum Ausdruck bringen. Wenn die Mass Observer einander psychologisierten und verbal attackierten, dann inszenierten sie dabei wiederum „Objektivität“, so mein Argument. Sie signalisierten sich nicht zuletzt, dass sie in der Lage seien, die „unverblümte“ Wahrheit zu erkennen, zu äußern und gegebenenfalls zu ertragen. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen wie Henry Novy, die sich tagtäglich in dieser Wissenskultur bewegten, irgendwann begannen, ihr soziales Umfeld auch jenseits der Organisation mit anderen Augen zu betrachten.


[1] Hier handelt es sich ausschließlich um männliche Personen.

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