Thema Platzhalter

Zwischen steigenden Preisen und wirtschaftlicher Stagnation: Wachstumsstrategien im westeuropäischen Kapitalismus seit 1979

Dr. Lars Döpking

Eine hohe Inflation, ein schwaches Wirtschaftswachstum und energiepolitische Sorgen: Diese Probleme prägen zurzeit den Alltag vieler Menschen im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Sie sind jedoch nicht neu, sondern waren auch Merkmale der weltweiten Wirtschaftskrise am Ende der 1970er Jahre. Lars Döpking untersucht unter anderem am Beispiel Italiens die Diskussion, Entwicklung und Implementierung von Wachstumsstrategien im westeuropäischen Kapitalismus nach 1979.


Im Jahr 1979 führten die zweite Ölkrise und der Volcker-Schock dazu, dass die öffentlichen Intellektuellen sich endgültig aus dem ökonomischen Diskurs verabschiedeten. Die von dem deutschen Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas zu Beginn der 1970er Jahre aufgestellte These, dass wirtschaftliche Krisen dank eines „auf konkrete Ordnungsleistungen zugeschnittenen politisch-administrativen Systems“ der Vergangenheit angehören würden, wirkte angesichts einbrechenden Wachstums, steigender Arbeitslosigkeit und galoppierender Inflation beinahe surreal. Statt eines solchen Steuerungsoptimismus war nun eine neuere, pragmatischere Art von Expertise gefragt, die Antworten auf die sich anhäufenden wirtschaftlichen Probleme finden sollte. Da sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch Unternehmen in Zukunft wirtschaftlich profitieren sollten, erschien die Erzeugung von Wirtschaftswachstum alternativlos. Da dieses sich aber nicht mehr von alleine einstellen wollte, mussten neue Strategien gefunden, ausformuliert und implementiert werden.

Wirtschaftskrise der 1970er Jahre in Europa

Die angespannte wirtschaftspolitische Situation wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass man nicht nur auf nationaler Ebene mit Herausforderungen konfrontiert war. Schließlich war das bisherige üppige Wachstum in ganz Europa auf dem Rückzug. Deshalb widmeten sich Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler in neu gegründeten oder restrukturierten Wirtschaftsforschungsinstituten der Aufgabe, in ihren nationalen Kontexten, aber auch gemeinsam in Europa neue Impulse zur Prosperität zu setzen. In der Retrospektive wirkt es so, als ob fortan vor allem zwei Wege beschritten wurden: Während die Staaten im Norden des Kontinents auf ihren Exportsektor setzten, hat man im Süden der Inlandsnachfrage die Rolle des Wachstumsmotors überantwortet. Beides wird in der Literatur häufig als Neoliberalisierung verhandelt, im Zuge derer sich der Staat als Gestalter von Wirtschaftsprozessen vollständig zurückgezogen habe.

Wirtschaftspolitische Debatten in Italien: Von der Entwicklungsökonomie…

Der italienische Fall zeigt aber, dass die Frage, wie ein Wirtschaftswachstum nach dem Ende der sogenannten Trente Glorieuses (die 30 „glorreichen“ Nachkriegsjahre, 1945-1975) erzeugt werden könne, Gegenstand erheblicher polit-ökonomischer Debatten und Konflikte war. Im Jahr 1980 verglich der italienische Ökonom Giorgio Fuà (1919-2000) die Wachstumschancen von sechs „spätentwickelten“ Volkswirtschaften, darunter Spanien und Italien. In seiner auch als Buch veröffentlichten Studie „Problemi dello sviluppo tardivo in Europa“ argumentierte er, dass sich diese Länder nicht der Illusion hingeben sollten, den Wachstumspfaden der größeren Industrienationen folgen zu können. Da Italien und Spanien zu bevölkerungsreich seien, ständen die Chancen schlecht, dort gesamtwirtschaftlich gesehen zum Produktivitätsniveau des nördlichen Europas aufzuschließen. Ein solches Wachstum sei nur um den Preis einer schrumpfenden Gesamtbevölkerung oder einer umfassenden Schattenwirtschaft zu erreichen. Fuà plädierte deshalb dafür, sich auf die hochkompetitiven Wirtschaftssektoren zu konzentrieren und gleichzeitig die Existenzbedingungen niedriger Produktivität – wie etwa im bis heute umfangreichen Einzelhandelssektor – zu bewahren, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern und die Nachfrage zu stabilisieren. Er optierte also weder für einen großen technologischen Sprung nach vorne, noch für eine breit angelegte Finanzialisierung der italienischen Ökonomie.

…zu den Problemen ökonomischer Distrikte

Giorgio Fuàs‘ Empfehlungen zeigten insofern Effekte, als der italienische Staat dazu überging, ökonomische Distrikte, das heißt die charakteristischen Netzwerke vieler kleiner Firmen und öffentlicher Institutionen, gezielt zu fördern. Betriebe dieser Distrikte – im Jahr 1991 zählte das Istituto Nazionale di Statistica (ISTAT) erstmals 199 von ihnen mit insgesamt 2,2 Millionen Beschäftigten – können bis heute als Price Maker auf Weltmärkten auftreten und bilden das innovative Herz des industriellen Italiens. Allerdings wies diese zwar nicht neue, aber nun gezielt geförderte Kultur des italienischen Kapitalismus auch Schattenseiten auf. Einerseits gaben die dort realisierten Produktivitätsgewinne der Volkswirtschaft nicht genügend Antriebskraft. Andererseits waren die Expansions- und damit Wachstumspotenziale der Distrikte begrenzt. So fehlte es den häufig familiengeführten Unternehmen an Kapital, um großangelegt ins Ausland zu expandieren, internationale Wertschöpfungsketten zu etablieren und zugleich neue Absatzmärkte zu erschließen. Als Ursache der schwachen Expansions- und Wachstumspotentiale der Distrikte identifizierte der Ökonom und spätere Vizewirtschaftsminister Mario Baldassarri (*1946) etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Fuàs wirtschaftsökonomischen Arbeiten das „subtile und perverse ‚Modell‘“ des Finanzsystems. Dieses habe zuerst „die ahnungs- und schutzlosen Sparer“ enteignet und anschließend ihre Ersparnisse über verschiedene Anreize in den öffentlichen Sektor umgelenkt. Dort seien diese Summen schließlich ineffizient über den Wohlfahrtsstaat umverteilt worden. Nicht nur die Problembeschreibung, sondern auch die empfohlenen Maßnahmen verdeutlichen die Unterschiede in den Strategien von Fuà und Baldassarri: Im Gegensatz zum entwicklungsökonomischen Ansatz des Erstgenannten setzte letzterer auf massive Ausgabenkürzungen, gepaart mit Steuererhöhungen. Zusätzlich sollte die Deregulierung des Finanzmarktes Anreize für (Auslands-)Investitionen setzen, die breitangelegte Produktivitätszuwächse erwirken und Italien langfristig auf ein exportorientiertes Modell ausrichten sollten.

Zielsetzung des Projektes

Mein Projekt rekonstruiert, wie solche Wachstumsstrategien im westeuropäischen Kapitalismus nach 1979 aktiv gesucht, formuliert und schließlich implementiert wurden. Ich untersuche einerseits, wie in Italien, Spanien und der Bundesrepublik Deutschland derartige Prozesse gestaltet und gelenkt wurden. Andererseits analysiere ich den Austausch der neuen Intellektuellen in transnationalen Foren und wie dieser sie zu innovativen Lösungen inspirierte, die häufig jenseits des Paradigmas einer umfassenden Neoliberalisierung lagen. Zuletzt interessiert mich, welchen Problemen die neuen Intellektuellen bei der Umsetzung von Wachstumsstrategien begegneten, wie sie etwaige politische Blockaden erklärten und welche Auswirkungen die von ihnen entworfenen Strategien auf die großen Volkswirtschaften der sich formierenden Eurozone hatten.

Weitere Beiträge zum Thema "Ungleichheit und soziale Kohäsion"