DHI Washington
Am Beispiel der deutschsprachigen Juden Mitteleuropas gehe ich der Frage nach, wie Menschen die vielfältigen Herausforderungen bewältigt haben, mit denen sie sich im frühen 19. Jahrhundert konfrontiert sahen. Religion, so meine These, konnte eine Barriere gegen Zumutungen der Moderne bilden, aber auch zu einer treibenden Kraft sozialen Wandels und kultureller Innovation werden. Andere Projekte beschäftigen sich mit Migration und Mobilität, konkret mit Auswandererkorrespondenzen und mit Menschen im globalen Transit. Dies tangiert mein zweites Buchprojekt – die Geschichte einer aus Deutschland stammenden, seit dem 20. Jahrhundert aber zunehmend transnational agierenden Bankiersfamilie.
In allen meinen Projekten beschäftige ich mich mit Akteuren, die auf die eine oder andere Weise „vergessen“ worden sind. Einige gehörten zwar zur ökonomischen oder intellektuellen Elite ihrer Zeit, sind aber heute nur noch Experten bekannt. Viele aber waren sogenannte „einfache Menschen“, die Geschichte „gemacht“ haben, in historischen Forschungen aber weitgehend namenlos bleiben und daher kaum repräsentiert sind. Das gilt insbesondere für Frauen und Heranwachsende, denen ich in mehreren der genannten Projekte besondere Aufmerksamkeit widme und die auch in der Forschungsagenda des Instituts eine wichtige Rolle spielen.
Die Menschen und Gruppen, die ich untersuche, haben wenige Zeugnisse ihres Lebens hinterlassen und nur einen Bruchteil davon haben die klassischen Wissensspeicher der Neuzeit bewahrt. Ich muss an verschiedensten Orten nach Quellen fahnden und akzeptieren, dass ich viele Spuren nicht finden kann. Mobilität und insbesondere unfreiwillige Migration bedingt oft den Verlust von Lebenszeugnissen. Die Herausforderung, Archive des Transits oder der Migration zu finden, fordert uns Historiker:nnen und hilft uns zugleich, den Blick auf das zu weiten, was wir als historische Quelle verstehen und zum Sprechen bringen können.
Simone Lässig ist die Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Washington DC.